Peter Giacomuzzi

Peter Giacomuzzi
Peter Giacomuzzi

Geb. 1955 in Bozen.

1974 - 1981 Studium der Germanistik und Pädagogik in Innsbruck

1990-2005 Dozent für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität in Tokyo.

Lebt in Innsbruck.

 

http://www.petergiacomuzzi.com/

 

Bei Edition BAES erschienen:

asyl asyl (2016)

frann (2010) 

Peter Giacomuzzi: Briefe an Mimi. 1938 – 1944. Abbildungen.

Zirl: BAES 2022. 252 Seiten. EUR 25,90. ISBN 978-3-95054283-0-5.

Peter Giacomuzzi, geb. 1955 in Bozen, lebt nach Jahren in Japan in Innsbruck. 

 

Briefe an Mimi

Das Wohnzimmer der Literatur ist die Kiste, da fühlt sie sich wohl und beschützt und wartet mit dem Kistenbesitzer tapfer auf das Ende der Welt.

Peter Giacomuzzi ist von Kindheit an von dieser Literatur in der Kiste inspiriert. Bei ihm hat diese Verzauberung die Ausmaße einer Schuhschachtel und steht im Regal seiner Tante, die ihn durchs Studium füttert. In der Schachtel sind Briefe eines gewissen Toni, der als Bild neben dem Fernseher steht. Später ist die Tante gestorben und der Erzähler erwachsen geworden. Mit größter Ehrfurcht sichtet er die Briefe und beschließt nach Jahrzehnten, sie im gefühlten Einklang mit der Tante diskret zu edieren. 

„Briefe an Mimi“ ist ein Stück intime Geschichtsschreibung, wie sie seit Menschengedenken stattfindet. Hinter jeder schriftlich formulierten Liebesgeschichte steckt auch ein Stück jeweilige Gegenwartsgeschichte. Im Endeffekt tun Liebende nämlich nichts anderes, als das große Rätsel vom Leben und Sterben mit den Wörtern des Zeitgeists auf die Intimität herunterzubrechen.

Der Herausgeber fungiert in diesem besonderen Fall als Autor, Zeitgeschichtler und Heimatkundler. Seine Qualifikation für dieses Unterfangen ist nämlich einmalig: „I bin japanischer walscher mit taitsch.“ (23)

Die Briefe an Mimi sind Einweg-Post, die Antworten muss man sich jeweils zwischen den Zeilen erschließen. Die Schreibsituation lässt sich wie ein Klappentext zum Leben zusammenfassen. Der in Bologna studierende Toni lernt bei einem Heimatausflug nach Bozen eine Friseurin kennen, verliebt sich ins Ungewisse und Blaue hinein, und die angeschriebene Mimi schreibt regelmäßig zurück. Es gibt diverse Treffen, die aber die Zukunft offenlassen. Das Ungewisse macht den schreibenden Toni oft eifersüchtig und hilflos, andererseits schiebt er seine Unruhe auf die Politik, die gerade mit der Option über Südtirol hereinbricht. Toni studiert später in Innsbruck, ehe er immer weiter an die Front versetzt wird. Schließlich kommt der letzte Brief Mimis an ihn wieder zurück mit dem Vermerk „Empfänger vermisst“. Mimi ist inzwischen in Innsbruck und berichtet von Bombenangriffen, die ihre FrisurKlienten mit nassem Haar in die Schutzbunker fliehen lässt.

Diese Briefe sind in kursiver Schrift abgedruckt, der Gesprächsstoff verletzt keine Persönlichkeitsrechte, denn wegen der Zensur findet die Post ohnehin öffentlich statt. Neben familiären Schicksalen, die in Nebensätzen erwähnt sind, geht es vor allem um das Diffusum der Zukunft, sowohl was die beiden betrifft, als auch die Gesellschaft.

Einfach durchhalten, warten, weiterschreiben, dranbleiben. – Dieses Verhalten passt sowohl für ein Liebespaar als auch für eine schreibende Person. Die Dichter leben ja schon seit Jahrhunderten in einem aussichtslosen Hoffnungszustand, wofür es keine Erfüllung gibt. Auf der zweiten Ebene sind die Briefe mit historischem, ästhetischen, pädagogischen und geographischem Material unterlegt. Auf gerastertem Untergrund wird etwa ein im Brief zitiertes Liebeslied in voller Länge angespielt, eine sogenannte Hummel-Postkarte liegt als 

Fallbeispiel für Ästhetik des guten Willens bei, der in Südtirol für das letzte 

Weihnachtsgeschäft gebräuchliche „goldene Samstag“ wird in seiner Mehrdeutigkeit vor diversen Stimmungslagen aufgefächert, und das Törggelen erklärt sich im merkantilen Austrinken und Umfallen quasi von selbst.

Manche der vorgestellten Rituale und Geschäfte funktionieren zu allen Zeiten, wie das Trinken, Weinen und Alleinsein, andere sind spezifische Rituale des Regimes, etwa das Öffnen von Briefen, das dem Recherchieren im Internet sehr nahekommt.

Die dritte Ebene ist als vergängliche Blässe ausgeführt. Im sachten Andruck ohne 

Großschreibung schimmern Notizen des Autors aus dem Papier. Manche Absätze sind so zart ausgeführt, dass sie lese-physikalisch das Auge nicht mehr erreichen. Aber Schlüsselwörter und Beschreibungen von Gemütszuständen vermitteln eine Art inneren Monolog, den der Autor über die Edition gestülpt hat.

Die naheliegende Frage, wie hätte ich als Toni gehandelt, zieht sich als durchgehendes Motiv über die Notate. Die Antwort fällt meist „reif“ aus: Wahrscheinlich ähnlich. Denn gegen die Zeitgeschichte hat noch niemand ein Leben hingekriegt, ob in der Liebe, im Studium oder in der physischen Vernichtung durch Arbeit oder Krieg.

Peter Giacomussi schafft mit dieser dreifachen Textschicht eine eigenständige Form von Literatur.

In Tirol werden die sogenannten Südtiroler-Siedlungen mittlerweile abgerissen, umgebaut und für ein neues Geschichtsbild restauriert. Darin sind wahrscheinlich Tausende sogenannter

Erinnerungskisten verwahrt, die manchmal wohl entsorgt werden, in günstigen Fällen im Archiv landen oder aller-günstigstenfalls als „Briefe an Mimi“ in einem Regal für griffbereites Nachdenken.

Helmuth Schönauer

Was wird eigentlich gepatscht? 

Peter Giacomuzzis poetische Prosacollage „Briefe an Mimi"

Von Alban Nikolai Herbst

ca. 7 Minuten Lesezeit

 

Der Glaube und das blinde, taube, lahme und stumme Vertrauen wollten und konnten wohl alle Zweifel an der NS-Herrschaft und deren Verbrechen überblenden. So wurde mit der Feldpost die unglaubliche kindliche Hoffnung in eine Idylle in die Heimat übermittelt, die, wenn alles vorbei wäre, sich einstellen musste. Die „Briefe an Mimi“, die Peter Giacomuzzi literarisch flankiert, lässt Alban Nikolai Herbst schaudern.

die welt sind meine sinne. 
alles andere ist religion.

Peter Giacomuzzi
 
 Ein Schuhschachtelfund, von dem lange nicht gewußt wurde, was anfangen mit ihm: in der ein-zimmer-wohnung mit möbeln aus den 50er jahren. und das foto von dem soldaten auf dem fernseher. das war der toni. (…) und die schuhschachtel voll von briefen”, die aber doch ein Recht haben, ihre Intimität zu bewahren! Mit denen hebt es gleichwohl an, dieses ungewöhnliche Buch, und es hat lange gedauert, so lange dieses ungute gefühl, in einem leben zu wühlen und dabei in linien (…) des menschseins hineinzustoßen.

Aber wir schreiben geschichte. wir schreiben geschichten. Die geschichten liegen überall offen und versteckt. die augen der kinder sind flink und wach und finden sie auch noch im traum. rette dich, es geht um dein leben! Sieh dich nicht um und bleib im ganzen umkreis nicht stehen. (…) so wiederholen wir uns selbst, schauen nicht zurück, glauben, nach vorn zu gehen und bleiben am selben punkt wie die maus im rad.(…) wir wissen alles im moment und vergessen es im selben augenblick wieder.

So ist, die Briefe zu verwenden, eine politische, vor allem aber poetische geradezu P f l i c h t, die Giacomuzzi auf sich nimmt, zwar bleibend mit einem etwas schlechten Gewissen, das sich in unversehenen fast Momenten der Wut ausdrückt: und weil wir nicht weiterkommen, und weil wir es nicht erklären können, machen jene profit, die mit einfachen lösungen kommen. (…) weil nur glauben gefragt ist. blindes, taubes, lahmes und stummes vertrauen. Weil mit dem guten Gewissen aber zugleich, dem nämlich besseren, uns, seinen Leserinnen und Lesern, die unheimliche Kontinuität unserer Verhältnisse zu historischen wie gegenwärtigen Geschehen deutlich zu machen, haben selbst Giacomuzzis bisweilige Ausfälligkeiten gegen die digitalisierte Welt und deren manipulative Bedrohungen durch ihre neuen Medien noch da ihr Recht, wo sie vielleicht ein bißchen tendenziös pauschal sind. Zumal das erschütternde an den nachgelassenen, zwischen 1938 und 1944 geschriebenen Liebesbriefen des Obergefreiten der Deutschen Wehrmacht, Anton Schöch, an seine über bis fast an sein höchstwahrscheinliches – er ging an der Front verloren – Ende immer noch nur „Freundin‟ und erst kurz vorm „Fallen‟ wirklich Gemahlin… – zumal an ihnen das eigentlich Erschütternde ist, wie sie uns vorführen, auf welche Weise Verdrängung selbst noch im härtesten Krieg unter Artilleriefeuer … ja, furchtbares Wort, „funktioniert‟. Denn von dem ist – an der Ostfront stehend – kaum etwas erzählt; die meisten dieser Briefe hätten auch in Friedenszeiten von jemandem geschrieben sein können, den irgendein sonstiges Geschick von der Geliebten getrennt hat, sagen wir den Ölbohringenieur auf einer fernen Ölbohrinsel. Erst als der Tod sich vielleicht doch erahnt, erfahren wir – erfährt die Frau – ein kleines bißchen was vom Krieg. Als wär der Nebensache, geht es vor allem um Kleinbürgereien, Eifersucht, spätre Wohnungssuche, Urlaube im Kuschelhütterl usw. Als wäre der ganze Nationalsozialismus nicht da, hätte es nicht die Pogrome gegen die jüdischen Mitbürger und ihre für jede und jeden sichtbare Verschleppung gegeben, als wäre alles dieses Normalität und es gehe darum allein, jeweils die eigene Familie von dieser für sie neuen Liebe zu überzeugen und also, daß geheiratet werden müsse.

„Liebes Weible‟, schreibt Toni, „Liebes Weibi‟, „Liebste Minimaus‟ – die Diminutive finden kein Ende („Hast Du Dein Öfele schon in Betrieb?‟) und zeigen verniedlichend schmerzhaft, und eben darin hart skandalös, ein Geschlechterverhältnis, vor dem uns lange nachher noch angst und bange wird. „Liebe kleine Mimi Maus und liebes kleines schwarzes Schatzi-Putzi, sei recht viel tausendmal gegrüßt und geküßt von Deinem, wegen dem Verlust Deiner Bilder, so traurigen Bibi.‟
 
 
Das alles wär recht unerträglich, vor allem, weil der Briefeschreiber Akademiker ist, „nur‟ Naturwissenschaftler zwar, aber doch gerade als solcher ein Mensch, der, ging’s mit rechten Dingen zu, imstande sein müßte, aus den Folgen Gründe zu erschließen. Ist er aber nicht. „Nun habe ich mein ganzes Denken und mein ganzes Herz verraten (…)‟. So daß sich von einem weltblind-verkitschten, quälend banalen Spezialistentum sprechen ließe, das sich permanent, so auch am 11.5.39, „mit der Hoffnung auf bessere Zeiten getröstet‟ fühlt. So auch die Schlager Komm mit mir ins Separee, Glücklich ist, wer vergißt, was doch nicht zu ändern ist. Genauso geht Verdrängung. Wir lesen dennoch weiter, und zwar mit Spannung. Was an Giacomuzzis dazwischengeschobenen und nicht nur durch eine andere Type, sondern vor allem vermittels der durchgehaltenen Kleinschreibung abgesetzten poetischen Kommentare liegt, die allem eine Struktur geben, die uns erkennen läßt, indem hier zwei gegenläufige Haltungen erhellen, welches Drama sich e i g e n t l i c h abspielt und einfach, einfach weitergeht: und die erwachsenen freuten sich, wenn wir kinder ihre Lieder mitsingen konnten. so wurden wir zu teilnazikindern. obwohl der krieg schon lange vorbei war.

Oder zum Wartheland: der exerzierplatz des mordens hatte einen namen. wir haben ihn weggelöscht. Sowie um priesterlichen Mißbrauch: und in rom die kardinal*innen tanzen im gruftischritt durch den dom. die knäbelein aber singen „wenn ich ein vöglein wär‟ und alle bekommen nasse augen, (…) so zart, so gefühlvoll, so himmlisch die ton und die leitern auf und ab. Dieses stets in Giacomuzzis lyrischer, aber b e t e i l i g t e r Prosa, die auf die dunklen Briefe Schöchs, die so tun, als wärn sie hell, einen derart hellen Schatten wirft, daß es grell wird: ich hab dein bild im krieg verloren. ich habe dich im krieg verloren. wir haben dann den krieg verloren.
So etwas macht Gänsehaut. Was Giacomuzzis, je weiter das Buch voranschreitet, fast zynisch werdende Kommentare – so brave soldaten. und damit sie beim töten nicht gleich ganz kaputt sind und schon vor der schießerei zur mama laufen, gibt’s auch heute noch hochkarätiges, oder auch pillen und andere pülverchen (…) den Schnee durch die nase ziehen, bis die ohren zu segeln beginnen – … – was sie also erzähldramaturgisch mehr als nur rechtfertigt, sind die außerdem dokumentarischen Einschübe aus Ortserklärungen, Zitaten usw., die meist grau unterlegt sind und als Kästchen den gesamten Romantext quasi erden:

 

Zugleich erzählt dieses Buch – es ist dessen in Giacomuzzis eigener Biografie verankerte ideengeschichtliche Basis, – auch die Geschichte, eine Teilgeschichte, Südtirols – die dolomiten (…) sind der in fels gehauene ethnische konflikt –, die einer vor Verlorenheit dauererzitternden, eigentlich nichtnationalen Identität – vielmehr ist es die alleine einer Landschaft –, die sich in die Brust werfen muß, um sich vermeintlich zu halten, weiße Mulatten einer mit Scheinstolz apart gehaltenen Zweiundeinachtelsprachigkeit: vielleicht war ich immer dort zuhause, wo ich im moment nicht sein konnte. die heimat ist der zufluchtsort der sehnsüchte, und zwar entsetzlicherweise bis in die internalisierte Beschwörung von Klischées: die schweiz ist eine frau und hortet das geld alles bösen auf der welt im schoko-toblerone-fels des matterhorns.

 
In den Enddreißigern, beginnenden Vierzigerjahren des leider eben nicht vergangenen Jahrhunderts mußte sie sich, diese fragile Identität, an die asthenische Trichterbrust „des Führers‟ werfen, der indes bei Toni nur quasi-touristisch auftaucht, nämlich am 19. März 1940: „Gestern sah ich den Führer, als er vom Brenner zurückgefahren ist. Es ist dies nun das zweite Mal im Leben, daß ich ihn gesehen habe; dabei bin ich naß bis auf die Haut geworden, aber sehen habe ich ihn müssen‟, den kleinen bellenden GröFaZ. Und Toni bleibt affirmativ, bis in den Schützengraben imgrunde nicht mal regrediert, sondern ein beim Lallen schon stehengebliebenes Kind, dem der „Landesvater‟ selbst dann ein Gott, wenn er ein Völkermörder ist.

 
Kurz, ein unreifer Mensch, in dessen Briefen die später reihenweise fallenden Kameraden kaum mal im Nebensatz vorkommen. Das Unglück ist ein Regen, der halt hinzunehmen ist; lächerlich, wer gegen Natur revoltiert. Im Krieg wird gestorben und verstümmelt, im Regen wird man naß. „Gelt, mein liebstes Weibi, das wäre halt schön, da hätten wir es schön, freue mich im Grunde schon darauf‟, lauten die letzten Zeilen, die Anton Schöch geschrieben, „aber zu früh darf man sich halt heutzutage doch nie freuen, denn es kann sich plötzlich wieder etwas ändern.‟ Zum Beispiel abermals stürmen und Sturzfluten regnen. „Wenn Du, mein liebstes Weibi, fest den Daumen haltest wird es schon gehen, denn bis dahin habe ich auch schon drei Jahre Dienstzeit voll.‟ – Hingeschrieben in der Ukraine, damals noch Sowjetunion, nahe Nowosserhijiwka, bevor er von der Truppe abkam und verscholl. Derart auch aktuell ist dieses gespenstische Buch. „Recht viele tausende heiße und innige Bussi von Deinem Toni‟ – wobei Giacomuzzi die letzten vierzehn Brief nicht mehr kommentiert, was dem Ende des Buchs den Charakter einer Stretta verleiht, der sich zu entziehen fast nicht mehr geht. Wir nämlich spüren tatsächlich schon den Tod; Toni – darin liegt die tragödische Dramatik – tat es nicht. 

Angehängt ist nur noch ein Brief, der einzige, der bisherigen Empfängerin, vielleicht, weil nur er von ihr erhalten ist. Zu unserem Schaudern beschließt ihn Mimi so: „Hermann hat einrücken müssen. Viele 1000 Bussi und Grüße von Deinem Frauchen”. 

Werke

 

asyl asyl - Gedichte von Peter Giacomuzzi
 
Unser Autor Peter Giacomuzzi gehört zu jenen, die wissen, wovon sie schreiben, denn er arbeitet seit Jahren mit und für Flüchtlinge als Sprachlehrer. Stilistisch und formal genau gearbeitet, inhaltlich authentisch und nicht schon wieder so eine recherchierte Scheiße, wie sie inzwischen unter den Autorinnen und Autoren üblich ist.

 

 

Erscheinungsdatum: 2016

Umfang: 112 Seiten

Preis: EUR 12,-

ISBN 978-3-9504186-6-8

Rezension zu asyl asyl von H. Schönauer

 

Kaum ein Begriff der jüngeren Sprachgeschichte hat es so markant geschafft, vom Liebkind zum Bösewicht und retour zu mutieren, wie dieses in allen Tonlagen beeindruckende Wort Asyl.

Peter Giacomuzzi verwendet Asyl gleich als Doppelgarnitur, um die Wichtigkeit zu betonen und andererseits die semantische Transportkapazität zu erhöhen wie sonst im öffentlichen Personenverkehr üblich. Die knapp hundert Gedichte laufen wie ein lyrisches Tagebuch über den Bildschirm, der womöglich die üblichen Ereignisse zeigt, die Texte freilich handeln alle von diesem entgleisten Planeten, der vielleicht als Ganzes auf der Flucht ist.

Oft wird gar nicht mehr unterschieden zwischen den Schutzsuchenden und Schutzgebenden, weil sich die Zustände mehrmals am Tag ändern können. Zwischen März 2015 und Februar 2016 verändern sich die Wörter im Stundentakt, was eben noch verboten ist, kann am Nachmittag schon verwendet werden, was ein No-go ist, kann eine Woche später schon zu einer gefeierten Maßnahme werden.

In den Gedichten tauchen dann auch jene Schlüsselwörter auf, die vielleicht einmal der Zeit den Namen geben werden: Zaun, Boot, Rettungsring, Flut, Aufnahmestopp, Obergrenze.

In einem Zensurgedicht sind alle fatalen Wörter aufgezählt und politisch korrekt durchgestrichen. (8) Eine ähnlich schwarze Liste gibt es über jene Politiker, die eigentlich durchgestrichen gehörten, aber das Jahr über ständig die Meinung wechseln, sodass sie immer Oberwasser haben. (19)

Das lyrische Ich leistet sich über weite Strecken subtile Gefühle und schließlich auch subjektive Einschätzungen. Eine Familie mit dem Namen des Autors ist schon seit Jahrhunderten unterwegs und braucht täglich Asyl und wird dennoch nie heimisch. Im biographischen Abspann ist davon die Rede, dass der Autor ein Leben lang über den Brenner hin und her gesprungen ist wie der typische Tennisball, ständig von der anderen Seite zurückgeschlagen.

In dem großen Asyl-Strom geht als erstes die Persönlichkeit verloren, trotz der Fügung von der Einzelprüfung. Dieser Zustand überträgt sich auf die einzelnen Gedichte, die aufgeladen über Umweg-Bilder genau das ausdrücken, was in der Mitte des Erzählstroms nicht mehr erzählt werden kann. „drei tote ratten / auf der straße / bei st. charles / marseille // die anderen leben / lungern und lauern / und hoffen sich / zu enden // 080715“ (47)

Allmählich verroht auch die Sprache der Dokumentation, aus dem Schutz einer ehemals großen Liebe treten die Verzerrungen von brutalem Sex heraus, was einmal ein Liebesgedicht hätte sein können, ist zu einem wilden Vögel-Gedicht verkommen. In ähnlicher Weise zeigt sich der Humanismus der Genfer Konvention plötzlich als bedrohlicher Berg von Schutzmaßnahmen, der brutal mit Floskeln abgearbeitet und verflacht werden muss.

Peter Giacomuzzis Texte sind alle mit einem Aufwühl-Datum ausgestattet, und die Botschaft lautet: So wild ist es damals zugegangen, aber bedenkt, was sich inzwischen wieder alles verändert hat! Asyl asyl sind Gedichte, die jeden Menschen verlässlich erreichen, so oder so.

 

Helmuth Schönauer 28/03/17

 

Frann

 

Peter Giacomuzzi hat achtzehn Jahre in Japan gelebt und an einer Universität in Tokyo unterrichtet. Frann ist seine erste Buchpublikation. In dieser Novela donnern der männliche und weibliche Kosmos aufeinander. Frann verdeutlicht diesen „Zusammenstoß“. Es ist die Verschmelzung und Kurzform von Frau und Mann. Der Text hat phasenweise eine Härte und Brutalität, die für Schöngeister und Romantiker nicht erträglich ist. Dazwischen tauchen surreale, verspielt-versponnene Bilder auf, die erstaunen lassen.

 

Erscheinungsdatum: 2010

Umfang: 104 Seiten

Preis: Euro 14.-

ISBN: 9783950270532

Rezension

frann

Die kürzeste Geschichte der Menschheit geht vielleicht so: Mann und Frau können nicht zusammenkommen und wenn sie es dennoch tun, entsteht daraus ein Murks.

 

 

Peter Giacomuzzi beschreibt in seiner plakativen Novela den Versuch, aus Mann und Frau eine Legierung „frann“ zu schmieden. Zuerst treten die Gender-Helden einzeln auf, dann als gemeinsame Katastrophe.

 

Im ersten Kapitel Mann ist der Held schon am Ende mit sich und seiner Ehe. Nach endlosen Nächten im Hamsterrad des Trinkens schleicht er sich jeweils heim zu seiner Frau, die wie totes Fleisch im Bett liegt und nichts mehr erwartet. Bei Tageslicht kann er arbeiten, weil er nichts denken muss, eine Sekretärin weiß um ihre Aufgabe, ihn dienstlich erregt und sich selbst aufregend kühl zu halten. Dem Helden schwinden manchmal die erotischen Sinne und die einzelnen Organe machen sich selbständig. Die Lippen der Sekretärin wandern unter den Schreibtisch und machen eine dienstliche Befriedigung. Anders ist diese Welt nicht zu ertragen. Und nach der Bar gehen jeweils zwei betrunkene Geschlechter ihrer Vereinigung entgegen, die sie nie erreichen können. (17) Und dann ist die Frau wirklich tot, wie der Hausarzt feststellt, für den Mann macht das keinen Unterschied, nur dass er jetzt die Kinder am Hals hat.

 

Im Kapitel von der Frau wird wie in einem psychologischen Protokoll von den Ritualen berichtet, mit denen die Tochter von damals früh auf ihre Rolle als Frau in einem Käfig vorbereitet wird. Der Vater spielt den Strengen, der die Welt durch Schweigen erklärt, der Großvater lässt manchmal ein Stück Herz aus und stirbt, die Mutter arbeitet still, wie es die Welt später auch von ihren Töchtern will. Es wird ihr beigebracht, immer andere zu lieben, nie sich selbst. Und dann zeigt ihr das Leben in allen Varianten, wie es bergab gehen kann. Falsche Männer, Abtreibung, Kinder, Trott, alles geht den Bach hinunter, der Tod ist die einzige Sicherheit.

 

 

In „frann“ schließlich zeigt die Gesellschaft, was sie von diesen Vereinigungsmodellen hält. Nach einem ehelichen Geschlechtsverkehr wird gestritten, wer das größere Arschloch sei, die Flausen der Nacht bekommt am nächsten Tag das Büro zu spüren, Frauen werden zu Fickfleisch, Männer landen beim Herumspringen im Herzinfarkt, in routinierten Geschlechterrollen umtanzen einander Mann und Frau wie Raubtiere, die von der jeweiligen Gefährlichkeit des anderen wissen. Frann wird zunehmend zu einer Pfanne, in der die Schmachtenden schmoren, während sie ständig von unsichtbarer Hand umgerührt werden. Letztlich treffen sich Mann und Frau wie Nachrichten auf einem Bildschirm, sie haben nichts miteinander zu tun aber offensichtlich das gleiche Sendeformat.

Peter Giacomuzzi erzählt in kleinen Partikeln und aus einem Guss gleichzeitig. Die einzelnen Sätze lassen sich kaum als solche wahrnehmen, es sind Muren von Erkenntnis, die auf den Leser abgehen. Beängstigend wahr und nur insofern beruhigend, als es offensichtlich eine Sprache gibt, um diese Unglückswucht zu beschreiben. - Elementare Hangrutsche zwischen Mann und Frau!

 

Helmuth Schönauer